Musik in den Ohren

Los Angeles, Shanghai und Randersacker - der Fotograf Tobias Zielony und der Schriftsteller Thomas Pletzinger haben Dirk Nowitzki monatelang begleitet. FORTYONE hat eine Kostprobe ihrer Reportage für Euch.

Shanghai im Oktober 2018: An der Auffahrt zum Ritz Carlton Pudong stehen Tag und Nacht Hunderte von Fans und warten auf Dirk, fein säuberlich eingepfercht hinter Absperrungen, und alle, wirklich alle tragen sein Trikot mit der 41. Obwohl die Mavericks jetzt auch junge und durchaus populäre Spieler haben: Luka Donćić oder Dennis Smith Jr. Die allerdings stehen staunend in der Lobby, wenn Nowitzki die paar Meter von der Hoteltür zum Bus gehtund es aus der Masse herausbricht, das Gekreisch, ohrenbetäubend, als wären die Mavericks die Beatlesund wir hätten 1966. »What a circus!« ruft er, wenn er seine Autogramme schreibt, wenn seine Fans übereinander klettern, um ihn irgendwie zu erreichen, wenn die Barrikaden vor lauter Liebe wanken, wenn der Mannschaftsbus schließlich hupend davonfährt. »What a circus!«, sagt Dirk ganz hinten im Bus, der Lümmel von der letzten Bank, aber man sieht ihm an, dass er die Zuneigung trotz aller Anstrengung zu schätzen weiß. »Ist ja nochmal schön.« Er lächelt. Vor ein paar Wochen ist er vierzig geworden. Er zieht die Gardine des Busses zur Seite und winkt. Er sieht nicht unglücklich aus.

Die Mavericks sind für zwei Vorbereitungsspiele gegen die Philadelphia 76ers nach China geschickt worden, um die amerikanische Profiliga NBA auf ihrem wichtigsten internationalen Markt populärer zu machen. Nicht, dass das in China nötig wäre: Die Chinesen lieben Basketball mit einer strikt organisierten Besessenheit, mit einer orchestrierten Inbrunst, die man selbst in den USA, dem Mutterland des Basketballs, nicht kennt. Hier wird nicht durcheinandergejubelt, hier wird ordentlich eskaliert, hier herrscht eine eigentümliche Mischung aus strukturierter Strenge und entregeltem Kommerz. Nirgendwo sonst gehen Merchandise und Streaming-Abos so gut wie hier. Die Mavericks sind mit drei Flugzeugen gekommen, etliche Container voller Equipment, das Team und sein Besitzer, Coaches und Medienbetreuer, Cheerleader und Sponsoren – ein Tross von mehr als zweihundert Leuten. Der texanische Staatszirkus ist in der Stadt, und Dirk ist sein Zugpferd.

Am späten Nachmittag arbeitet er sich im 53. Stock des Ritz Carlton mit Blick auf den Jangtse-Fluss durch sein Fitnessprogramm, er tropft und keucht auf einem Stepper vor sich hin. Nach ein paar hellen, blauen Tagen liegt jetzt wieder dichter Dunst über der Stadt, der Fluss zieht träge unter uns vorbei, die Ausflugsboote blinken. Man hat den Fitnessraum für eine halbe Stunde abgeriegelt, aber ein paar Fans in Nowitzki-Trikots haben sich bis vor die Türen gemogelt. Die meisten haben sich extra wegen ihm hier eingemietet: 3500 Yuan die Nacht, etwa 450 Euro, um einen Blick auf Dirk zu erhaschen. Er hat 30 konzentrierte Minuten für sein Kardioprogramm, dann ist durchgesickert, dass er hier oben ist. Dann muss er verschwinden.

Die Knöcheloperation ist jetzt ein halbes Jahr her, seitdem arbeitet er daran, seinen Körper auf die bald beginnende Saison vorzubereiten. Dirk sieht schmal aus, noch kantiger und eckiger als sonst, er hält sich strikt an seine Ernährungsregeln. Seit einundzwanzig Jahren hat er nicht mehr so wenig gewogen wie jetzt, und damals, in seinem ersten Jahr in der Liga, war er ein neunzehnjähriger Spargeltarzan mit irrsinnigem Metabolismus, kein Gramm auf den Rippen – und keine Ahnung, wie man Nudeln kocht. Nach der OP ist zunächst alles nach Plan gelaufen, aber dann hat sich eine Sehne in seinem Fuß entzündet. Die neue Beweglichkeit war ihr zu viel. An Basketball ist gerade nicht zu denken, in Shanghai wird er nicht spielen. Er muss warten und fit bleiben.

Von seinem Hotelzimmer im 49. Stock blickt man auf die blinkenden Bauten am Ufer, dahinter Wohntürme über Wohntürme, soweit das Auge reicht. In China leben 1,4 Milliarden Menschen, 300 Millionen davon Basketballverrückte, irgendwo in der Dämmerung liegt das Meer. Nowitzki ist frisch geduscht, sein Anzug für den Abend hängt bereits am Kleiderschrank, Bügelluft liegt im Zimmer. Seine Zehen stecken in zwei giftgrünen Plastikklemmen, die die Beweglichkeit des Fußes verbessern sollen. Heute Abend steht noch eine Gala im Shangri-La auf dem Plan, danach ein Players Only-Abendessen, bei dem er Wasser bestellen wird, dann zurück ins Hotel und sich irgendwie über den Jetlag hinwegschlafen. Er macht das seit Jahren, er kennt sich mit Zeitverschiebungen und Langstrecken aus. In all den Jahren ist er geschätzte fünfundfünfzig Mal rund um die Erde geflogen.

Am nächsten Morgen schleicht sich Nowitzki aus dem Hotel, um wenigstens ein winziges Stück China jenseits der vollgepackten Agenda zu sehen. Er hat sich das in den Kopf gesetzt, obwohl Spieltag ist. Wir fahren mit einem Kleinbus durch die Stadt, nur zwei, drei Freunde sind dabei, dazu Security und der Chaperon. Wir verlassen das Touristenviertel am Fluss und biegen auf den Hof des Jade Buddha Tempel, am Rande Zedern und Vogelgezwitscher. Zwei Mönche nehmen Dirk in Empfang, man tauscht Gastgeschenke, dann bekommen wir eine Führung durch den leeren Tempel. Dirk steht vor einer Lade mit alten Schriften, beobachtet die Weihrauchwedler im Hof, fragt nach der Kalligraphiewerkstatt, den Buddhas und Gebetsbänken, hört den Gongs und Gesängen zu. Die Mönche erzählen, wie sie abends die Körbe herausrollen und im Innenhof drei gegen drei spielen, und Dirk kann es kaum glauben. Niemand drängelt, niemand brüllt seinen Namen, eine unerwartete Ruhe überkommt die Reisegruppe. Als wir vor einem riesigen Buddha stehen, soll Nowitzki sich etwas wünschen. Irgendetwas.

Bei der abschließenden Teezeremonie („Best tea I’ve ever had!“) sind dann schon wieder Fotografen zugegen, und vor dem Tempel muss er dann doch noch ein paar Autogramme geben. So schnell wie wir gekommen sind, sind wir wieder weg. Dirk hat eine Jahrespackung grünen Tee bekommen. Als der Bus auf der Rückfahrt an einer Ampel stehen bleibt, fragt einer der Securityleute, was Dirk sich denn gewünscht habe. Ein langes Leben? Glück? Geld? Gelächter im Bus. »Einen intakten linken Fuß«, sagt Dirk.

Layout-Teiler

In den Tagen von Shanghai trifft Dirk den chinesischen Überbasketballer Yao Ming, der noch einmal einen halben Kopf größer ist als er, er trifft die afrikanische Legende Dikembe Mutombo, er fährt mit Julius »Dr. J« Irving im Aufzug nach oben. Dirk macht sich gut neben den anderen Legenden, aber es liegt nichts Museales in seinen Zügen. Er ist nicht hier, weil er belohnt werden will für das Erreichte. Er will spielen.

Er packt seine Anzüge, Bücher, Turnschuhe ein und fährt mit dem zweiten Bus zur Halle. Er sieht der Stadt zu, die vor dem Fenster vorüberzieht, all diese Lichter, all diese Menschen, die Arena am Fluss. »What a circus!« Heute abend wird er zumindest auf der Bank sitzen. In Sportklamotten, nicht im Anzug.

Vor dem Spiel gegen die 76ers stellt Dirk zwei Klappstühle vor die Kabine auf den Gang, zwischen Putzeimer und Wischmops. Um uns tobt die Vorbereitung auf das Spektakel. Auf dem Weg in die Kabine kommen Dirks Mitspieler vorbei, Fist Bumps und High Fives, ein paar gebellte Schmähungen und Scherze, ein paar der Jungs sind gerade mal halb so alt wie er. Er mache Fortschritte, sagt Dirk, der Fuß mache Fortschritte. Es werde aber sicher noch eine Weile dauern, bis er wieder spielen könne. Was zähle, sei das nächste Frühjahr, wenn die entscheidenden Spiele beginnen.

Was zählt, ist diese Welt.

Das Spiel ist holprig, manchmal wird Dirks Gesicht auf dem riesigen Würfel über unseren Köpfen gezeigt, China loves you!Er lacht. Er will eigentlich keine Abschiedsgeschenke, aber in einer Viertelpause überreicht ihm sein alter Mannschaftskollege Wang Zhi Zhi eine Gitarre, schrumm, schrumm, schrumm, die nächste Saison ist Musik in seinen Ohren. Als das Spiel vorbei ist, rollen die Busse im gelben Licht der Laternen vom Parkplatz. Richtung Flughafen, Richtung Shenzen, Richtung Amerika. Wir sehen ihm hinterher, aber Dirk sieht nach vorn.

Hinweis

Dies ist ein Auszug einer ausführlichen Reportage, die in der Printausgabe der WELT AM SONNTAG erschienen ist: Mit Dirk Nowitzki im Training in Randersacker, auf einem Road Trip die Westküste entlang, in Dallas und Shanghai. Mehr hier.

___ von Thomas Pletzinger & Tobias Zielony.

Fotos © Tobias Zielony